II I N T E G R A L R E C H N U N G
Das Quadraturproblem, den Inhalt einer durch eine Kurve begrenzten Fläche zu bestimmen, stellte - geschichtlich gesehen - den Ausgangspunkt der heutigen Integralrechung dar. Ihm kommt daher in diesem Kapitel ein ähnlicher Stellenwert zu wie dem Tangentenproblem in der Differentialrechnung.
Zu Beginn dieses Kapitels sollten wir uns allerdings klar machen, daß der Flächeninhalt einer Punktmenge der Ebenen nicht a priori gegeben ist. Vielmehr müssen wir erst definieren, was wir darunter eigentlich verstehen wollen.
Dabei gehen wir ohne Beschränkung der Allgemeinheit von dem speziellen Fall aus, daß die Punktmenge von einer positiven Funktion f : [a, b] -> IR, der x-Achse und den Geraden x = a sowie x = b begrenzt wird, und verwenden darüber hinaus, daß wir mit dem Produkt der Seitenlängen jedem Rechteck der Ebenen einen Flächeninhalt zuordnen können.
Die Betrachtung der Summe von Rechteckflächen in diesem Zusammenhang geht auf eine Idee von Bernhard Riemann (1826-1866) zurück, der das Intervall [a,b] in n Teilintervalle unterteilte (siehe Schaubild). Eine solche Zerlegung des Intervalls mit einer beliebigen Zwischenpunktwahl führt dann zu dem Begriff der Riemannschen Summe - einer Rechtecksumme (siehe dazu RIEMANN-INTEGRAL).
Wählt man nun für die Riemannsche Summe immer feinere Zerlegungen (Feinheit einer Zerlegung = Maximum der n Intervalllängen), so darf man annehmen, daß die Rechtecksummen die begrenzte Punktmenge immer besser approximieren.
Streben nun alle Riemannschen Summen - Feinheit -> 0 vorausgesetzt - gegen denselben Grenzwert I, wird man sinnvollerweise der begrenzten Fläche als Inhalt den Wert I zuordnen. Auch wenn diese Definition von konstruktiver Art ist, so bleibt im Regelfall der Nachweis der Konvergenz der Riemannschen Summen außerordentlich schwierig; denn dabei sind stets alle Zerlegungen mit ihren beliebigen Zwischenpunktwahlen in Betracht zu ziehen. Daher ist eine Beschäftigung mit dem Konzept von Ober- und Untersummen - wie sich noch zeigen wird - eine vorteilhafte Ergänzung.
Im Rahmen der Integralrechung werden wir allerdings auch sehen, daß die angekündigte Inhaltsdefinition nicht für alle Funktionen möglich ist. Im Anwendungsfalle - wie etwa bei den stetigen Funktionen - werden wir daher von Riemann-integrierbaren (R-integrierbaren) Funktionen sprechen. Übrigens: Der Begriff Integral geht wohl auf Leibniz zurück, der eine solche Rechenart zunächst "calculus summatorius" und später "calculus integralis" nannte.
So ist etwa die Dirichletsche Funktion f : [a, b] -> {0,1}, die jeder rationalen Zahl des Intervalles die Eins und jeder irrationalen Zahl die Null zuordnet, nicht R-integrierbar; denn die Riemannsche Summe kann jeden Wert zwischen 0 und b-a annehmen.
Mit der Einführung eines neuen Integralbegriffes durch Henri Lebesgue (1875-1941) zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde jedoch dieser Mißstand behoben und die Klasse der integrierbaren Funktionen auf entscheidende Weise erweitert (siehe dazu LEBESGUE-INTEGRAL).
Einen anderen Zugang zur Integralrechnung liefert die folgende Frage (siehe dazu STAMMFUNKTION):
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Ist es unter gewissen Voraussetzungen möglich, aus einer gegebenen Funktion f eine Funktion F zu "konstruieren", so daß F ' = f ist - etwa ähnlich wie bei der Differentiation, wo man von einer differenzierbaren Funktion f auf deren Ableitungsfunktion f ' schließt ? |
Wir werden sehen, daß dies möglich ist. Darüber hinaus werden wir eingehend die Beziehung zwischen Riemann-Integral und sogenannter Stammfunktion F studieren. Um Irrtümern vorzubeugen, bemerken wir bereits an dieser Stelle, daß
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eine R-integrierbare Funktion f nicht unbedingt eine Stammfunktion F besitzen muß und
eine Funktion f, die eine Stammfunktion F besitzt, nicht R-integrierbar zu sein braucht. |
Freilich werden wir viele Beispiele kennen lernen, wo mittels Stammfunktionen Riemann-Integrale ohne einen Grenzwertprozeß berechnet werden können.
Einen Überblick über dieses Kapitel geben die folgenden Punkte, die alle über die Menüleiste in der linken Spalte zu erreichen sind.
1. Riemann-Integral
2. Stammfunktion
3. Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung
4. Mittelwertsatz der Integralrechung
5. Uneigentliche Integrale
6. Kurventheorie
7. Riemann-Stieltjes-Integral
8. Lebesgue-Integral